Der Steingarten Murgtal - ein Kunstprojekt von H.R.Fricker
Der „Steingarten Murgtal“ erstreckt sich von der Alp Plätz bis zum Ober Murgsee. 140 der oft meterhohen Gesteinsbrocken gab ich Namen wie „Hundstein“, „Angststein“ oder „Wolfs Felsen“ und ergänzte einige mit einer Anleitung zu einer kleinen Handlung, z.B. „Nicht besteigen, nur umrunden“. Die meisten Objekte liegen direkt neben der Fahrstrasse oder am Wanderweg.
Die Steine wurden weder bearbeitet, noch sind sie beschriftet. Ich habe alle Steine fotografiert und zeige diese Bilder nun auf einer Wanderkarte, einer Homepage und einer 36-teiligen Postkartenserie. Damit will ich den Blick der Wanderer auf einige besondere Exemplare lenken und sie zum genaueren und spielerischen Hinschauen anregen.
Finanziell unterstützt wird das Projekt durch die Kulturförderung der Kantone SG und AR, sowie von 40 Privatpersonen, die sich an den Postkarten und am Plakat beteiligten.
Mein Name ist H.R.Fricker. Ich bin 1947 geboren, bin im Kanton St. Gallen aufgewachsen, und wohne seit 1975 im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Seit 40 Jahren arbeite ich als Künstler, vorwiegend im öffentlichen Raum.
Seit zehn Jahren fische ich etwa 10-12 Mal pro Saison am Murgsee und kenne die Gegend mittlerweile recht gut. Schon von meinem ersten Besuch an begeisterten mich die eindrücklichen Steinsetzungen im Tal, und ich entwickelte die Idee für dieses Projekt.
http://www.erobertdiewohnzimmer.ch
http://de.wikipedia.org/wiki/H.R._Fricker
http://www.sikart.ch/KuenstlerInnen.aspx?id=4001093
Auf an den Murgsee! von Annelise Zwez.
Vor rund 10 Jahren fragte der Appenzeller Künstler H.R. Fricker den World Wide bekannten Mister Google was er ihm zu « Bergsee » und « Fischen » auflisten könne. Als Top Treffer nannte dieser den auf 1825 Meter gelegenen « Murgsee » hoch über dem Walensee.
An ein Kunstprojekt dachte der im August 1947 in Zürich Geborene und in Gossau Aufgewachsene dabei (noch) nicht. Zu sehr war er mit anderen künstlerischen Unternehmungen beschäftigt ; den Alpstein Museen zum Beispiel oder dem Museum für Lebensgeschichten in Speicher (AR).
Vielmehr ging es um das strenge Verdikt seines Arztes : « Du muesch vil go loufe ».
Den erstmaligen Aufstieg von der Alp Merlen auf 1100 M.ü.M. bis hinauf zu dem deutlich über der Waldgrenze gelegenen Berggasthaus empfand er dementsprechend als anstrengend, doch « ich fühlte mich von Anfang an wohl da » und die Wanderung wurde ihm im Laufe der Zeit immer leichter.
Die Fische liessen (und lassen) sich nicht immer von den Ködern an Frickers Rute verführen; dennoch gehören 10 bis 12 Exkursionen an die Murgseen seit 2006 zum Jahreslauf des in Trogen ansässigen Künstlers.
Dass das St. Gallische Tal vis-à-vis der Churfirsten bis heute ein Funkloch ist, gehört dabei mit zum temporären Ausscheren aus der Hektik seiner auf Kommunikation ausgerichteten künstlerischen Tätigkeit.
Vor allem beim weniger Kraft heischenden Abstieg beginnt sich H.R. Fricker mehr und mehr mit der von unzähligen Steinbrocken, einem Bach und vielen kleinen Zuflüssen und Sumpfgebieten durchsetzten Landschaft zu beschäftigen. Der « Zen-Garten » - ein markanter Stein in einer von Sumpfgras bewachsenen Senke – ist die erste Station, die einen Namen erhält. Heute bildet er mit der Plan-Nummer 73 in etwa die Mitte des 140 Benennungen zählenden Murgtaler Steingartens.
Es sei, so der Künstler, nach einem bezüglich Fischfang-Quote 100% erfolglosen Aufenthalt gewesen, dass er mit den Steinen « zu sprechen » begonnen habe oder vielleicht auch sie mit ihm. Inzwischen kannte er sie ja alle bestens, wenn auch noch nicht « persönlich ».
Auster mit Perle
Denn erst jetzt wurde er des « Schildkrötenkopf », des « Wasser trinkenden Elefanten » gewahr. Erst jetzt lachte er, als er den « Thron » sah, erst jetzt spürte er die « Träumerin », sah die « Auster mit Perle » und wünschte sich das Tal von Jodelklängen erfüllt (« Jodlerstein « ).
Worte, Begriffe, Namen in verschiedensten Kontexten und auf verschiedensten Trägern sind seit jeher das Kunst-Material, mit dem H.R. Fricker arbeitet. In den 1970er/80er-Jahren erscheinen sie auf Fotografien, Plakaten, in der Mail-Art, auf Briefmarken. Dann reduziert er sie auf « Orte » (« Ort der Wut » « Ort der Lüge », « Ort der Lust » …), erweitert sie durch Kombinationen zu Charaktersätzen, fügt „Oral Histories“ und Fotografien zusammen.
Nie schafft er damit « Werke » im klassischen Sinne der Kunstgeschichte. Die Sprache bleibt in seinen Projekten Sprache, das heisst Mittel der Kommunikation. Entsprechend agiert der Künstler oft im öffentlichen Raum. Etwas, das viele junge Künstler auch heute (wieder) praktizieren. Bei H.R. Fricker ist es indes Ausdruck der 68er-Generation, welche die Kunst als Vehikel einer breiten öffentlichen Meinungsbildung betrachtete und den Museen eine Absage erteilte.
Interessant ist hiezu eine Bemerkung, die H.R. am Rande eines Gespräches macht. In den frühen 70er-Jahren, so Fricker sinngemäss, habe im nahen Deutschland die Aufarbeitung des „Holocaust“ auf breiter Ebene stattgefunden. Da habe er sich fragen müssen, ob ein solches Verhalten nicht theoretisch auch in ihm stecke. Daher sei es ihm bis heute wichtig, mit seinen Projekten die Menschen anzusprechen, sie inne halten, sie sich ihrer selbst bewusst werden zu lassen.
Nehmen wir in Gedanken eine Aktion von 1974 hinzu, bei welcher der Künstler zwischen Zürich und dem Säntis mit der Kamera Formen respektive Zeichen suchte, die ihn an den Säntis erinnerten, so zeigen sich da zwei Aspekte, die auch im Steingarten Murgtal enthalten sind – ein innerer und ein äusserer quasi, ein inhaltlicher und ein formaler. Zusammen zeigen sie, dass sich H.R. Frickers Kunstschaffen über Jahrzehnte hinweg immer wieder vernetzt.
Vom Fluchstein zum Widerständler
Im Laufe der anderthalb Jahre, in welchen das Steingarten-Projekt Form annahm, erhielten 140 Steine einen Namen. Sie folgen nicht alle demselben Muster, sondern speisen sich aus verschiedensten Quellen. Da sind als erstes die Steine, die ihren Namen von ihrer Form oder ihrer Oberflächenerscheinung erhalten haben. Der „Grizzlybär“, „Der Rachen“, der „Yellow Stone“, die „Einsame Schildkröte“ zum Beispiel. Achtung: Oft gibt es nur einen Standort, der die Benennung nachvollziehen lässt; das Kinderspiel heischt Aufmerksamkeit.
Dann sind da die Steine, die ein „Gespräch“ des Künstlers mit dem Stein suggerieren, einen Dialog, bei welchem sich die Steine, ihr Standort im Gelände, ihre Grösse, ihre Form, ihre geologische Beschaffenheit, ihre Ausstrahlung mit dem „Think Tank“ des Künstlers verbinden und unverhofft zum „Fluchstein“ zum „Kummerstein“, zum „Ort des Zweifelns“ , zum „Trauschauwem“-Stein oder auch zum „Horcher“, zum „Depot für Vorsätze“ oder zum „Widerständler“ werden. Es sind die Steine, die zuweilen mit einer Aufforderung verbunden sind; sie zu umrunden zum Beispiel, sie zu besteigen, ihnen eine Geschichte zu erzählen.
Und dann sind da die Steine, die der Künstler assoziativ (das heisst immer auch ein Stück weit biographisch) mit Kunst, Literatur und Musik verbindet. „Walsers Hutablage“ zum Beispiel, der „Hodlerstein“, (Caspar) „Wolfs Felsen“, „Vaters Garten“ (Titel eines Films von Peter Liechti), „Romans Sprengkiste“, „Krieg und Frieden“ (nach Tolstoi), „Elvis“ und andere mehr.
Zum Teil haben die Steine ihre Namen direkt vor Ort erhalten, zum Teil aber auch im Atelier, beim Betrachten der Fotos am Bildschirm. Dies führte in seltenen Fällen dazu, dass ein Stein zwei Namen erhielt – je nach Standort des Fotografen. Indirekt zeigt das Vorgehen auf, dass die Namensgebung ein anspruchsvoller Prozess ist. Er beinhaltet ebenso eine Auseinandersetzung mit dem Stein wie mit der Evokationskraft der Sprache. Wie kann ein Name die „Persönlichkeit“ eines Steines benennen und zugleich so verdichtet sein, dass er beim anfassen „gesprengt“ wird und eine Fülle von Geschichten, Emotionen, Aufforderungen frei gibt. Was heisst es, wenn ein Stein „Monte Verità“, „Wegelagerer“ oder „Querkopf“ heisst? Was passiert, wenn ein Stein zu „Ein Stein“ wird?
Aus für den Im und Am - Stein
Wer durch den Steingarten wandert, beginnt fast automatisch „freie“ Steine selbst zu benennen und da wird einem sogleich bewusst, wie schwierig das ist; nicht für die erste Gruppe, jene, die nach Form benennt, ein Gesicht oder ähnlich erkennt. Aber schon auf dem Level der „Meerjungfraueninsel“, des „Gelehrtenstein“, des „Berührstein“, des „Stein des Anstosses“ wird es anspruchsvoll, denn die Namen müssen Spannungen evozieren können, die mehrere Facetten bündeln. Und zwar egal ob sie Humoristisches anpeilen wie etwa der „Sprüngli“ – ein Felsen, mit einem deutlich sichtbaren Sprung in der Mitte – oder Politisches andeuten wie der „Menschenrechtsblock“ – ein fein überwachsener Brocken, direkt am Wegrand. Auch gilt es Missverständnissen vorzubeugen. So schaffte es z.B. der „Im und Am“-Stein (im u. am Wasser stehend) wegen der möglichen Verkürzung auf Imam (islamischer Prediger) nicht in die finale Liste.
Steine gehören zu den ältesten Zeugnissen von Kultur – man denke an die Schalensteine des Neolithikums, an die Menhire von „Stone Henge“. Die ältesten Bildsprache- respektive Zeichensprache-Überlieferungen sind auf Stein gezeichnet oder in Stein gemeisselt - man denke an die Wandmalereien von Altamira, an die Hieroglyphen in Alt-Ägypten. Steine sind die Basis von Architektur bis zurück zu den ältesten Tempeln der Welt. Durch alle Zeiten hindurch sind Stein und Sprache präsent.
Dass das so ist, hängt essenziell damit zusammen, dass der Stein die verdichtetste Materie ist, die es auf dem Planeten Erde gibt. Die Sprache ist uns erhalten, weil der Stein sie trägt. Aber auch Steine haben eine Geschichte, auch Steine entstanden in Ur-Zeiten. Die Zusammensetzung ihrer Mineralien ist unterschiedlich, zuweilen sogar in ein und demselben Stein, was zu Linien, zu Form-Charakteristiken führen kann. Und dann sind da die erdgeschichtlichen Kräfte, die sie aufgeschichtet und die Gletscher, die sie ausgewaschen, ihre Kanten geglättet haben. Man könnte im Murgtal auch einen Geologie-Lehrgang einrichten.
Doch das steht bei H.R. Fricker nicht im Vordergrund. Da gibt es zwar einen Stein mit dem Namen „Chumi hüt nöd chumi morn“, der darauf hinweist, dass im Murgtal nichts „in Stein gemeisselt“ ist, auch heute und morgen Felsstücke abbrechen und herunterkollern können. Und der „Mutterbauch“, der in seiner Form viel „weicher“ ist als die meisten andern Steinbrocken, zeigt unverhofft auf, dass es da verschiedene Epochen gibt, jene der Eiszeit und jene danach. Auch wird jetzt bewusst, dass es Steine gibt, die scheinbar aus dem Boden wachsen und andere, die verraten, dass sie hier auf dem Weg von oben nach unten ganz einfach liegen geblieben sind.
Weder Richard Long noch Ulrich Rückriem
Zentral ist das aber nicht für den Murgtaler Steingarten. Viel wichtiger ist die Sprache respektive die Kombination von Stein und Sprache. Vergleiche mit zeitgenössischen Stein-Künstlern sind zwar erhellend, aber eher als Abgrenzung, denn als Parallele. Ganz klar ist, dass Frickers Umgang mit Stein nichts mit traditioneller Stein-Skulptur zu tun hat. Auch mit dem englischen Land-Art-Künstler Richard Long, der auf seinen Bergwanderungen Steine als Linien- oder Kreis-Formen auslegte, verbindet H.R. Fricker nur die Präsenz in der Landschaft. Nicht weiter bringt uns auch ein Vergleich mit dem Ostschweizer Bildhauer Peter Kamm, dessen Steine Naturformen suggerieren, indes klar bearbeitet sind. Dasselbe gilt für die Quader von Ulrich Rückriem, da die Spreng-Spuren die Eingriffe des Menschen deutlich aufzeigen.
Das Wesentliche an H.R. Frickers Umgang mit dem Stein ist, wie nun klar wird, dass er die Steine nicht von ihrem Standort entfernt, nicht bearbeitet, sondern als „Wesen“ an ihrem Ort, mit ihrer Geschichte, ihrer „Persönlichkeit“ annimmt und mit ihnen in einen Dialog tritt. Der Dialog und das belassen vor Ort rückt auch Kunst-Begriffe wie „Appropriation Art“ oder „Ready Made“ in den Hintergrund.
Verwandt fühlt sich H.R. Fricker hingegen mit der Tradition des Suiseki der Präsentation von ausdrucksstarken Landschafts- und Objektsteinen auf Sockeln (Japan) oder in Gärten (China). Von da entlehnt sich auch der Begriff des Murgtaler Stein-Gartens, welcher der Autonomie der einzelnen Steine zum Trotz letztlich doch ein sprachlich gestaltetes Netzwerk ist und auch sein will.
Wie zum Stein, gilt es auch Überlegungen zur Sprache einzuflechten. A priori hinken hier alle Vergleiche mit in Stein gehauener Schrift, mit gedruckten, gemalten, gestickten, gewobenen Sprachzeichen, mit Neon-Schriften, mit skulptural ausgelegten Buchstaben usw. Denn die Sprache ist bei H.R. Fricker zwar zentral, aber sie erscheint nur in Form von Namen in Fotodokumentationen, also weder am Stein noch als Beschriftungen im Gelände. Ähnlich wie beim Menschen, dessen Name nur erfährt, wer in Dialog mit ihm tritt.
Es gibt auch andere Künstler, die lediglich mit Titeln oder Beschreibungen arbeiten, Bruno Jakob etwa, dessen mit Wasser auf weisses Papier gemalten „invisible drawings“ Titel tragen wie „He will never see his heart“ oder „A Cup of Sunshine“. Auch an der Biennale Venedig 2015 konnte man lediglich Evoziertes entdecken, denn der libanesische Fotograf Abdallah Farah hörte eines Tages auf, die Fotos des zerstörten Beirut zu entwickeln und beschrieb sie nur noch.
Die beiden Beispiele haben nicht direkt mit H.R. Fricker zu tun, doch alle bauen sie auf die Imaginationskraft dessen, der sich auf das Benannte, Beschriebene einlässt. Ergänzend ist hier natürlich auch auf Remy Zaugg hinzuweisen.
Entscheidend ist die Kombination!
Ein wichtiges Moment ist, dass alle genannten Vergleichsbeispiele in Ausstellungen gezeigt werden können, H.R. Frickers Steine aber nicht. Natürlich können die Fotos vergrössert und mit einem Begleitschild aufgehängt werden, natürlich kann die Postkarten-Serie einer Publikation gleich betrachtet werden, aber das „Werk“ erschliesst sich damit nicht oder nur theoretisch. Nur wer den Murgtaler Steingarten erwandert, wer die Standorte, die Grösse, die Proportionen der Steine in der Landschaft sieht und wahrnimmt, nur wer auf die Steine klettert, die Steine berührt, umrundet, überhüpft, ihnen Geschichten erzählt, seine Verwünschungen ausspricht...tritt mit der Natur und dem, was über die Materie hinausweist in Verbindung. Nur da bündelt sich Emotionales, Zeitgeschichtliches, Kulturelles und Intellektuelles zu jenem Mehrwert, der „Kunst“ heisst. Nur da wird die Vision des Künstlers, durch die Teilnahme an seinem Projekt einen persönlichen Erkenntnisgewinn zu erhalten, Realität.
H.R. Fricker ist den Weg von der Alp Plätz bis hinauf zur Alp Merlen und von da weiter bis zu den Murgseen unzählige Male gegangen. Er hat mit den Bauern und anderen Ortskundigen, mit Historikern, Geologen und vielen mehr gesprochen. Er hat für sich aus der Landschaft einen „Garten“ gemacht. Das bedeutet einerseits Vertrautheit durch Wiederbegegnung, andererseits aber auch das Bewusstsein eines gestalteten Ganzen. Dieses Gestaltete ist zum einen vorgegeben durch die in der Zeit angelegten Parameter der Landschaft: der Berge und Bäche, der Felsen, der einzelnen Steine, der Erde, der Pflanzen, der Tiere usw. zum andern durch die 140 Namen, welche den Wanderweg wie Klänge säumen und zum Lied machen. Bewusst hat der Künstler Steine ausgewählt, die nahe am Weg liegen – es geht ihm nicht um eine Romantik der Erhabenheit, sondern um Nähe, um Körperlichkeit, um das direkte Aufeinandertreffen von Ich und Du entlang eines Lebensweges und der darin enthaltenen Geschichten und Erlebnisse. Von Momenten der Einsamkeit bis zur „Lust in aller Ewigkeit“ (Nietzsche-Stein), vom „Catwalk“ bis zum „Traum-Depot“, vom „Stolperstein“ bis zum „Gedenkstein für alle Gedenksteine dieser Welt“.